Zum Selbstverständis der technischen Chemie

von G. Kreysa in Nachr. Chem. Tech. Lab. 43 (1995) Nr.12, 1281.

"Wozu braucht ein Chemiker Technische Chemie ? Obwohl dieser Frage in der chemischen Industrie eher prähistorische Gegenstandslosigkeit beigemessen wird, hat sie im akademischen Raum offenbar noch immer keine endgültige Antwort gefunden. Wie sonst wäre die Tatsache zu erklären, daß an 54% aller deutschen Universitäten mit Chemieausbildung kein Lehrstuhl für Technische Chemie existiert und mindestens 55% aller Chemiestudenten keine Chance zur Ausbildung in Technischer Chemie erhalten?

Die im 19. Jahrhundert entstandene Ausbildungstradition hat der chemischen Industrie einen grundlagen- und forschungsorientierten Chemiker aus der naturwissenschaftlichen Fakultät und als Verfahrenstechniker einen auf Konstruktion und den Bau chemischer Apparate spezialisierten Ingenieur aus der Fakultät für Maschinenbau bereitgestellt. Es blieb der Industrie überlassen, wie es Max Buchner, der Gründer der DECHEMA Deutsche Gesellschaft für Chemisches Apparatewesen, Chemische Technik und Biotechnologie e.V., einst sehr treffend formulierte, diese beiden Kulturen "zu planvoller Gemeinschaftsarbeit" zusammenzuführen.

Ganz anders verlief die Entwicklung im angelsächsischen Raum, so sich als "Chemical Engineering" ein Ausbildungsgang etablierte, der Elemente der Chemie und der Verfahrenstechnik, ausgerichtet auf die Bedürfnisse der Industrie, miteinander verband, wie wir es heute etwa mit dem Chemieingenieurwesen in Dortmund, Erlangen und Karlsruhe kennen. Erst die erste Hälfte unseres Jahrhunderts brachte die Erkenntnis, daß Form, Gestaltung und Größe der Apparate den Verlauf der chemischen Reaktion selbst gravierend beeinflussen, woraus das sich stürmisch entwickelnde Gebiet der Reaktionstechnik entstand. War die Technische Chemie einst mehr verfahrensbeschreibender Natur, so hat sie mit der Reaktionstechnik ihr wissenschaftlich fundiertes Gravitationszentrum gefunden. So gesehen führt die obligatorische Ausbildung in Technischer Chemie zu jener Minimalbefähigung eines jeden Chemikers, die ihm die transdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Ingenieurwissenschaften überhaupt erst ermöglicht.

Nur ein Bruchteil der Absolventen einer Massenuniversität kann sich heute noch eine wissenschaftliche Forscherlaufbahn erschließen. Von der dringenden Notwendigkeit einer nachfrageorientierten Revision der Studieninhalte wird allenthalben gesprochen. Es ist nun an der Zeit, den Worten Taten folgen zu lassen und die Technische Chemie flächendeckend in der Chemikerausbildung zu verankern, wie es in den neuen Bundesländern vor der allzu kopierfreudigen Integration ihrer Universitäten in unser nicht vollkommen selig machendes Bildungssystem der Fall war.

Auch die zweifellos richtige Feststellung, daß nur noch ein rückläufiger Teil der zahlenmäßig steigenden Absolventen eine Beschäftigung in der chemischen Industrie findet, kann kein Argument gegen die Technische Chemie sein. Die Zahl der beim Betrieb einer Chemieanlage einzuhaltenden Gesetze und Verordnungen weist in unserem Lande eine Verdopplungszeit von zehn Jahren auf, Tendenz fallend. Noch wirkt dies auf dem Arbeitsmarkt insofern entspannend, als der Behördenbedarf an Chemikern steigt, wobei niemand die Augen davor verschließen sollte, daß es für das Verhältnis von kontrollierenden zu produzierenden Chemikern einen kritischen Wert gibt, oberhalb dessen im Sinne einer Substrathemmung die Existenz der Gesamtpopulation gefährdet ist. Der Gedanke, einem Chemiker ohne Kenntnisse in Technischer Chemie die Kontrolle der chemischen Industrie anzuvertrauen, ist so absurd, als wollte der TÜV die Kfz-Überprüfung einem Schuster überlassen, weil er über Erfahrungswerte zum Abrieb von Gummi verfügt.

Die von der DECHEMA in Kooperation mit dem Fond der Chemischen Industrie und der Bundesanstalt für Arbeit wiederholt durchgeführte Zusatzausbildung für stellensuchende Chemiker in Technischer Chemie hat eindrucksvoll bewiesen, wie deutlich ein Grundwissen in dieser Disziplin die Beschäftigungschancen verbessert. Bei rund 26% unserer Absolventen, die ein Jahr nach dem Studienabschluß noch immer stellungslos sind, kann hier ein Handlungsbedarf nicht mehr ignoriert werden. Auch in Zukunft wird Weiterbildung in Technischer Chemie sinnvoll und notwendig sein, aber sie muß subsidiär auf den Fundamenten einer Grundausbildung während des Studiums aufbauen können.

Mi ihrem Verhaltenskodex hat uns die GDCh als ihre Mitglieder auf eine "nachhaltige und dauerfähige Entwicklung in Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt" verpflichtet. Dies wird in unserer chemisch durchdrungenen Industriegesellschaft von jedem Chemiker dauerhaft und glaubwürdig nur mit einem Minimum an Wissen über die Technische Chemie zu leisten sein.

Bei der anstehenden Revision der Studieninhalte wird eine prioritätsorientierte Differenzierung zu leisten sein, die klar unterscheidet, welches Wissen während des Studiums und welches danach im lebenslangen Prozeß der Weiterbildung erworben werden muß. Vor dem Hintergrund der heutigen Berufswelt des Chemikers kommt der Technischen Chemie die Bedeutung eines Grundlagenfachs zu, denn sie ist das Navigationssystem zur Orientierung in der weiten Welt der Anwendung der Chemie. Wir sollten deshalb endlich aufhören, Nichtschwimmer zu Schwimmlehrern auszubilden, ohne ihnen zuvor das Schwimmen beizubringen."